2021 – European Year of Rail

Das Europäische Jahr der Schiene ist ausgerufen. Gemeint ist wahrscheinlich der gesamte Bahnverkehr auf der Schiene.

Redaktion: Peter Baumgartner.

Schade eigentlich, denn ginge es nur darum, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Schiene zu lenken, könnte die Binnenschifffahrt wenigstens einen kleinen Beitrag zum Gedenkjahr beisteuern. Wenig bekannt ist nämlich, dass Binnenschiffer ein besonderes Naheverhältnis zur Bahn haben und nicht wenige Kapitäne spielen gerne mit der Modelleisenbahn. Schienen sind auch quasi die Geburtshelfer eines jeden Schiffes, wenn es die Werft verlässt und erstmals vom Stapel läuft. Schiffe, die auf Schienen fahren, haben auch eine lange Tradition bei der Überwindung topographischer Hindernisse. Vereinzelt gibt es sie heute noch. Größte Aufmerksamkeit erregte ein „Schiffseisenbahn“-Projekt 1881 das zum Ziel hatte, Schiffe auf Schienen über den Isthmus von Tehuantepec zu transportieren und so eine Verbindung zwischen Pazifik und Golf von Mexiko zu schaffen.

Eine lange Geschichte haben auch Schiffe mit Schienen, auf denen Waggons über das Wasser fahren können. Vor über 150 Jahren gab es zwischen Eisenbahn und Binnenschifffahrt sogar so etwas, was man heutzutage strategische Kooperation nennen würde. Zwischen Friedrichshafen und Romanshorn wurde die erfolgreiche Trajektschifffahrt erst 1976 eingestellt. Auf dem Iseosee in Italien, der durch den schwimmenden Christo-Steg kulturelle Berühmtheit erlangte, fuhr ein Trajekt sogar bis 1999. Vereinzelt schwimmen Waggons noch immer über das Wasser – eher auf Meerwasserstraßen allerdings und weniger auf Binnengewässern. Der Begriff „Hafenbahnhof“ ist inzwischen aber aus dem allgemeinen Eisenbahnvokabular verschwunden und die Binnenschifffahrt ist für die Bahnbetreiber maximal noch unliebsamer Mitbewerber.

Dabei hätte die Bahn allen Grund, einen Teil des Ehrenjahres mit der Binnenschifffahrt zu teilen, denn die aktuelle Popularität verdankt die Bahn nicht ihrer Leistung, sondern der sinnbefreiten Verkehrspolitik. Der Masterplan Binnenschifffahrt sieht zum Beispiel vor, dass die Wasserstraße verstärkt für Schwergut- und Großraumtransporte genutzt werden soll. Das hindert die Bahn aber nicht daran, parallel zur Wasserstraße zum Beispiel Windenergieanlagen zu transportieren. Und voller Stolz berichtet die Bahn, dass sie in eineinhalb Monaten schon 1680 Tonnen transportieren konnte – so viel wie ein einziges Schiff auf derselben Strecke an einem Tag transportiert. Vielleicht schaut die Verkehrspolitik da deshalb tatenlos zu, damit sie immer wieder mit freien Kapazitäten auf der Wasserstraße werben und gleichzeitig über Transportzuwachs auf der Schiene schwadronieren kann.

Seit 2020 ist Sigrid Nikutta bei der DB Cargo Vorstandsvorsitzende. Ihr Motto für den Job „Wir fahren alles“ schreit förmlich nach einem Regulativ, weil offensichtlich der Gesamtüberblick fehlt, den man auf der obersten Managementebene erwarten darf. Abgesehen vom Flugzeug kann man davon ausgehen, dass die Bahn unter den Landverkehrsträgern der Mercedes ist. Rechnet man die Subventionen für die Bahn hinzu, dann sowieso. Würden Sie mit so einer Limousine Zementsäcke führen? Nein, denn mit Vernunft gesegnet sollte man jeden Verkehrsträger das machen lassen, was er am besten kann.

An dieser Stelle muss man der Wahrheit zuliebe sagen, die Verkehrspolitik und das Bahnmanagement ist nicht allein verantwortlich für das desaströse Abschneiden der Bahnlogistik. Einen erheblichen Anteil am unhaltbaren Zustand hat die Raumordnung und die Industrieansiedlungspolitik. Eine Schlüsselpolitik, die vielerorts kleinen Kommunen überlassen wird, deren Ortsvorsteher mit der enormen Gesamtverantwortung heillos überfordert sind. Immer wieder werden Industrieanlagen auf die grüne Wiese gestellt, nur weil der Bürgermeister die „besseren Argumente“ gehabt hat.

Da wird zum Beispiel das „größte Werk Europas für Solarpanele“ mitten ins Dorf gestellt. Die vorhandene Verkehrsinfrastruktur besteht aus einer zweispurigen und als gefährlich eingestuften Landstraße, einer eingleisigen Nebenbahnstrecke für den Personenverkehr mit vielen unbeschrankten Bahnübergängen und einem Forellenbach. Dabei ist es nicht so, dass die Betreiber vor Ort nicht auch eine perfekte Verkehrsinfrastruktur vorgefunden hätten. Nein, nur sechs Kilometer vom Projektstandort entfernt gibt es ein voll aufgeschlossenes Industriegebiet mit direktem Anschluss an die Schnellstraße und Autobahn und einen direkten Zugang zum internationalen Bahnnetz. Selbst ein Flughafen ist über die Schnellstraße in weniger als 30 Minuten zu erreichen. Aber nein, niemand hat dem bösen Treiben Einhalt geboten und so wird tagtäglich quer durch Europa sinnlose Ansiedlungspolitik mit den bekannten Folgen betrieben. Da sind selbst die besten Bahnmanager machtlos. Es geht auch anders: In der Schweiz gibt es beim Bahnausbau zwingend eine enge Abstimmung mit der Raumplanung.

Diesbezüglich geht es der Binnenschifffahrt in vielen Ländern übrigens nicht besser. Gelegentlich werden Industrieansiedlungen sogar in Sichtweite einer Wasserstraße getätigt – aber ohne direkte Umschlagmöglichkeit. Man fragt sich, wann irgendwer für diese horrende Vergeudung von Volksvermögen verantwortlich gemacht wird. Allein in Deutschland stellt das System Wasserstraße ein Anlagevermögen von rund 50 Milliarden Euro dar. Aber nicht nur dass die Schiffe diese Infrastruktur vielerorts schlecht nützen, für die Raumplanung scheint dieses Vermögen gar nicht zu existieren.
Abgesehen von der fehlenden Bereitschaft verkehrsvermeidende Maßnahmen zu setzen, ein Verkehrsträger übergreifender Denkfehler, der bei Richtigstellung vielleicht zum größten Klimaerfolg führen könnte, ist der „freie Warenverkehr“ in der Union. Hier wird unwidersprochen ein Begriff schlicht und ergreifend falsch ausgelegt und stillschweigend akzeptiert. Niemand stellt in Abrede, dass die Abschaffung der Zölle, die Aufhebung von Mengenbeschränkungen oder der freie Zugang zum Markt nicht der Gemeinschaft dienlich sein soll. Der Denkfehler besteht vielmehr darin, dass der freie Warenverkehr nicht automatisch die freie Wahl der Verkehrsmittel bedeutet. Denn genau daraus resultiert, dass der Grundsatz vom Schutz der öffentlichen Gesundheit nicht gewährleistet werden kann.

Wer diese Fakten ignoriert, verweigert die Erkenntnis, dass uns die bisherige Verkehrspolitik genau dahin gebracht, wo wir nicht sein sollen. Ohne diese Erkenntnis sind wir aber jetzt gezwungen, mit untauglichen (und kostspieligen) Mitteln etwas zu verändern, was so nicht veränderbar ist. Auf die Gefahr hin, dass man im Gedenkjahr zum Spielverderber ernannt wird, man muss ganz klar sagen, diese Verkehrspolitik ist ein Race to the bottom. Weit kann es nicht mehr sein und anscheinend will da jeder als Erster unten ankommen. (PB)

Quelle: LOGISTIK express Ausgabe 1/2021

 

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