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Blaue Jobs

In der Schweiz werden Regeln geschrieben, die für die gesamte europäische Binnenschifffahrt zum Gesetz werden – aber nicht für die Schweiz.

Text: Peter Baumgartner

Die sea chefs Gruppe und Nautilus International unterzeichnen einen Gesamtarbeitsvertrag, teilt die Schweizer Gewerkschaft Nautilus mit. «Die Sozialpartner wollen durch Transparenz den Schutz, der aus verschiedenen Ländern stammenden Beschäftigten gewährleisten, weil Fahrtgebiete, die verschiedene Länder berühren, Schiffe mit unterschiedlichen Flaggen, sowie sprachliche und kulturelle Barrieren den Schutz des Personals erschweren.» Es geht um 1700 Beschäftigte, die auf Flusskreuzfahrtschiffen in Europa unterwegs sind.

Die Europäische Union wurde auf Grundlage der Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit errichtet. Mittlerweile wurde aus der Freiheit ein Zwang. Aus der Personenfreizügigkeit wurde eine Bewegungspflicht. (Prof. Vincent Kaufmann).

Die grundsätzliche Frage ist, warum braucht es die genannte Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft überhaupt, wenn es längst eine, zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft einvernehmlich ausgehandelte und von der EU angenommene, «Europäischen Vereinbarung über die Regelung bestimmter Aspekte der Arbeitszeitgestaltung in der Binnenschifffahrt“ gibt? Diese gemeinsame Vereinbarung der Sozialpartner gibt es nämlich schon seit 2014. Bekanntlich wurden seither dennoch immer wieder Missstände bei einigen Arbeitgebern in der Branche aufgezeigt und dokumentiert, die sich nicht an die Spielregeln halten wollen. Daraus ergibt sich die nächste Frage: Warum sollen sich durch die neue Schweizer Vereinbarung, die auf der alten EU-Vereinbarung beruht, Arbeitgeber bemüßigt fühlen, jetzt doch gesetzeskonform zu handeln? Der Verdacht liegt nahe, dass wieder, wie bereits vor 2014, die negative öffentliche Wahrnehmung über Arbeitsbedingungen in der Binnenschifffahrt schöngeschrieben werden soll. Ein tatsächlicher substanzieller Verbesserungswille war und ist nicht erkennbar. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Arbeitnehmer in der Binnenschifffahrt auf Unionsebene „anders“ behandelt werden dürfen, als das sonst der Fall ist. Das ist historisch begründet. Früher zählte man Binnenschiffer zum „fahrenden Volk“ was oft gleichbedeutend mit einer bestimmten Stigmatisierung verbunden war. Heute sagt man dazu politisch korrekt „beruflich Reisende“…

Ein Flusskreuzfahrtschiff ist eine „Greedy Institution“. Vergleichbar mit einem freiwilligen Gefängnis oder einem Kloster, unterliegt der tägliche Lebensablauf eines Binnenschiffers einer allumfassenden zentralen Kontrolle und Regelung und verlangt bedingungslose Loyalität.

Es wird zwar behauptet, dass zum Beispiel bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung „auch für Arbeitnehmer in der Binnenschifffahrt gelten“, aber in der Umsetzung unter realen Bedingungen sind es halt doch nur Absichtserklärungen. Arbeitnehmer in der Binnenschifffahrt sind nämlich „mobile“ Arbeitnehmer und damit werden „besondere“ Bestimmungen gerechtfertigt, die zum Beispiel auch höhere Arbeitszeiten legitimieren. Das wird dann als „angemessen“ allseits widerspruchslos zur Kenntnis genommen – auch von der Gewerkschaft.

Ein besonders beliebter und oft strapazierter Begriff im Unionsrecht ist die Harmonisierung – auch im Arbeitsrecht in der Binnenschifffahrt. Damit das aber dann für die Union nicht in Arbeit ausartet und Verantwortung schafft, geht man gleichzeitig her und sagt, die Verantwortung, Durchsetzung und Kontrolle liegt bei den Mitgliedsstaaten – um sofort doch wieder eine gemeinsame Kontrollinstanz, zum Beispiel in Form von Aquapol zu schaffen. Die perfekte Konstellation ist somit geboren, wo jeder auf jeden die Verantwortung abschieben kann. Übrig bleiben die, die Verantwortung übernehmen wollen und die Binnenschifferinnen. Vornehmlich die, die es sich nicht richten können.

«Neben den Mindestlöhnen für das Hotel-Personal steht die kooperative, transparente Zusammenarbeit der Sozialpartner im Zentrum dieses Vertrages», schreibt die Gewerkschaft Nautilus in ihrer Aussendung und erläutert, dass man sich an den deutschen Mindestlohn (Euro 9,82 Brutto) orientiert, wobei «meist mehr bezahlt wird». An den gültigen Mindestlohn von Basel (21 Franken), wo die überwiegende Zahl der Kabinenschiffe beheimatet ist, will man sich aber nicht orientieren. Der Vergleich hinkt zwar etwas, weil die Schweiz ja gar kein EU-Land ist, zeigt aber deutlich das Dilemma, in dem die europäische Binnenschifffahrt steck: Erfolgreich ist der, der es schafft, sich die Rosinen aus den unterschiedlichen Länderangeboten herauszupicken. Besonders erfolgreich sind die in der Schweiz ansässigen Unternehmen, denn das was die Gewerkschaft dort als «kooperative Zusammenarbeit» bezeichnet, ist das Zusammenspiel von Sozialpartnern, Politik und Behörden in Personalunion mit wohlwollender Unterstützung der Medien. Das macht die Schweizer Flagge bei den Unternehmen aus aller Welt so beliebt. Die Besonderheit dabei ist, dass so Regelungen für die gesamte EU-Binnenschifffahrt – aber nicht für die Schweiz – geschrieben werden. Vielleicht heißt es deshalb KREUZfahrt, weil so viele Schiffe unter dem Schweizerkreuz fahren.

Vor dem Hintergrund der vorherrschenden öffentlichen Deutungshoheit der Arbeitgeberseite, bleibt der Gewerkschaft oft nur noch übrig mit den Wölfen zu heulen, um im Rudel zu überleben. So bleibt den Arbeitnehmervertretern oft nur der Part monetäre Verbesserungen in der Hoffnung einzumahnen, dass die Arbeitgeber Mitleid zeigen. Mit sozial verträglich, verantwortungsvoll und wertschätzend, hat das allerdings wenig zu tun. Die Abgeltung der einen oder anderen Überstunde mag vielleicht ein Trost für den Empfänger und ein Erfolg für die Gewerkschaft sein, Entschädigung für gesundheitsschädigende Arbeitseisätze sind sie aus medizinischer Sicht nicht.

Weil die Medien jede Meldung, die ihnen von der Deutungshoheit hingeworfen wird, brav ungeprüft rapportieren, bleiben neben den Standardmeldungen viele Eigenheiten der Binnenschifffahrt unbeachtet. So haben zum Beispiel Kreuzfahrtschiffe fast die maximal mögliche Größe erreicht und die Gästekabinen sind inzwischen mehr als doppelt so groß wie noch vor wenigen Jahren. Die Crewkabinen hingegen sind minimal geblieben oder sogar noch kleiner geworden. Selbst 3-fach Belegungen in solchen „Schuhkartons“ sind noch möglich. Jedoch kann man selbst das noch schönreden, wenn man einen Schlafsaal auf asiatischen Schiffen als Vergleich heranzieht.

Auch die Arbeitsorganisation selber ist in der Binnenschifffahrt oft noch „mittelalterlich“. Wird jetzt aber nicht mehr als Sklavenarbeit, sondern als „Teamwork“ bezeichnet. Steht zum Beispiel die Versorgung der Kabinenschiffe auf der Tagesordnung, sind für die Passagiere und Crew regelmäßig große Mengen Material notwendig. Dann muss die gesamte Crew ran an die Arbeit und jeden Mehlsack, jede Klopapierrolle, jedes Bierfass und jede Gemüsekiste per Handarbeit vom LKW an Bord tragen. Dabei kann es schon passieren, dass zwei oder mehr Schiffe nebeneinanderliegen und die Leute treppauf/treppab laufen müssen, bis der Letzte in der Reihe schließlich die Ware im Schiffsbauch verstauen kann. Umgekehrt wiederholt sich das Spiel bei der Entsorgung, wobei dann noch das Problem mit der Hygiene dazukommt, weil der Kapitän zwar angehalten ist den Müll ordnungsgemäß zu entsorgen, aber über die richtigen Sammel- und Lagermöglichkeiten an Bord macht sich bei der Schiffsplanung niemand Gedanken. Überhaupt gewinnt man (nicht nur in der Binnenschifffahrt) den Eindruck, für die Umwelt und den Klimaschutz wird aktuell mehr getan, als für den Arbeitnehmerschutz. Dabei drängst sich die Frage auf, für wen wir die Umwelt überhaupt schützen, wenn gleichzeitig die Menschen nur noch dank Reparaturmedizin und Pharmaindustrie das Pensionsalter erleben. Dabei geht es nicht mehr „nur“ um körperliche Gebrechen wie Bewegungsapparat, Herz oder Lunge, sondern insbesondere auch um psychische Beeinträchtigungen. 2021 hat eine US-Studie (U.S. Mariner Mental Health & Wellbeing During COVID19 and Beyond/M.G.Baker) fünf psychische Gesundheitsaspekte unter den US-Schiffsleuten untersucht (Depression, Angst, Stress, posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgedanken). Das Ergebnis war ernüchternd. Die Hälfte der Befragten hatte zumindest in einem der fünf Belastungspunkte einen hohen Wert und niemand bekam Hilfe, um mit diesen Belastungen umzugehen.

Ein offensichtliches Ergebnis der nun schon über Jahrzehnte andauernden Misswirtschaft in der Binnenschifffahrt ist der stetig wachsende Fachkräftemangel. Genauer gesagt das, was das Gewerbe als Personalproblem darstellt. Begonnen hat das Desaster mit einer „betriebswirtschaftlichen“ Erleuchtung. „Für den Lohn eines österreichischen Kapitäns bekomme ich drei slowakische Kapitäne“ (O-Ton eines österr. Reedereichefs). Damit war natürlich auch die bis dahin kostspielige Ausbildung und die Praxisplätze an Bord passé. Konnte man sich ersparen, weil die Personalquelle in den osteuropäischen Ländern einmal angezapft, munter sprudelte. Inzwischen ist die Quelle versiegt und der Nachwuchs wächst leider noch immer nicht auf Bäumen. Man möchte meinen, zumindest jetzt werden die Manager zur Besinnung kommen und Ausbildungsgrundlagen schaffen. Weit gefehlt! Zwar sind inzwischen auch die Ansprüche der Arbeitnehmer gewachsen (Work-Life-Balance), aber die schlechten Arbeitsbedingungen haben sich nicht geändert. Typisches Merkmal, ausgerechnet in der Flusskreuzfahrt, wo händeringend nach Personal gesucht wird, gibt es an Bord kaum einen Ausbildungsplatz. Schon weil es räumlich selbst auf modernsten Schiffen gar nicht möglich ist. Niemand will sich mehr als die Mindestbesatzung leisten und selbst die wird gelegentlich noch unterschritten. Kommt es dann zu einer Havarie, weil der Kapitän allein auf der Kommandobrücke schlicht und ergreifend wegen Übermüdung einschläft, weiß jeder Polizist „aus Erfahrung“ sofort – „menschliches Versagen“ und man geht zur Tagesordnung über. Das könnte allerdings ein Auslaufproblem sein, denn die neueste wissenschaftliche Erkenntnis ist zum Schluss gekommen, dassder in der Binnenschifffahrt bestehende Fachkräfte- und Personalmangel in Zukunft durch die mögliche Reduzierung von Personal und die Verbesserung des Berufsprofils im Zuge der Automatisierung entschärft wird.“ Soll heißen, die Digitalisierung erlöst die gierigen Institutionen von Personalproblemen und menschlichen Fehlern.

Durch künstliche Intelligenz erschaffene Schiffsintelligenz ersetzt intelligente Kapitäne. Schon heute können Schiffe um die Ecke sehen. Früher konnten Kapitäne um die Ecke denken.

Covid-19 war und ist für alle Menschen eine enorme Herausforderung in vielerlei Hinsicht. Dennoch konnte man damit eine Zeit lang die Hoffnung verbinden, dass die Nachdenkpause konstruktiv genützt und vielleicht in manchen Bereichen ein Umdenken eingeleitet wird. Wieder weit gefehlt! Um nochmals die europäische Direktive „Harmonisierung“ zu strapazieren: Im Bereich der Schwarmdummheit haben wir das Ziel fast erreicht.

„Rolls-Royce ist ein wichtiger Innovationstreiber in der Schifffahrtsbranche, wir sind stolz darauf, mit ihnen an intelligenten, vernetzten und datenzentrierten Systemen zu arbeiten, die in Zukunft eine Grundlage für einen sicheren Schiffsbetrieb auf der ganzen Welt bilden werden.“ Quelle: Rolls-Royce

Bilder: IBBS

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