Der Rattenfänger von Korneuburg

Manche „Ideen“ können sich wirklich zur Plage entwickeln und den Menschen viel Kopfzerbrechen bereiten. Dann wünscht man sich den sagenumwobenen Rattenfänger, der die Plagegeister in die Donau lockt und sie mit der Hoffnung den Fluten überlässt, sie mögen nicht andernorts neuerlich auftauchen.

REDAKTION: PETER BAUMGARTNER.

Im Vergleich mit der Seeschifffahrt etwas verspätet aber doch, autonom fahrende Binnenschiffe gewinnen mehr und mehr an medialer Aufmerksamkeit und die Wissenschaft sieht auch hier ein breites Betätigungsfeld für lange Zeit.

Die Kommunen wittern eine Chance, dass für sie ein Stück vom Kuchen abfallen könnte. Braucht es doch Testfelder, wo sich die Wissenschaft unter realistischen Bedingungen bei den Erprobungen von Programmen austoben kann. Manche sehen gar einen Lottogewinn in greifbare Nähe gerückt, wenn sich durch die Bereitstellung von Testfeldern für das autonome Schiff Unternehmen oder gar ganze Forschungseinrichtungen neu ansiedeln. Finnland sieht sich bereits als Testlabor für Künstliche Intelligenz.

Die Wirtschaft, stets bedacht die Kosten niedrig zu halten, fürchtet, dass sich die Kostenstruktur verschieben könnte, wenn – was längst sicher ist, der LKW autonom fährt, das Binnenschiff aber (noch) nicht. Deshalb drängt auch sie, man möge die Forschung beschleunigen. Ihr Wunsch ist es, dass der Kapitän spätestens in zehn Jahren von Bord gehen möge.

Die Schifffahrtsindustrie hat es noch eiliger. Schwer geprüft von der chinesischen Übermacht, sieht sie sich schon als Gewinner der Kannibalisierung. Die Entwicklung von Hochtechnologie und deren Anwendung im Schiffbau bietet (noch) einen großen Vorsprung gegenüber einfachen Schweißern. Durch die Fusion von Kongsberg Maritime und Rolls-Royce Commercial Marine ist eine Technologiemacht mit der Kraft eines Kernreaktors entstanden, der jetzt das autonome Schiff in kürzester Zeit zur Marktreife bringen will. Testfahrten wurden bereits erfolgreich abgeschlossen. In kleinerem Umfang aber auch schon in China.

Für Reeder könnte sich der Wechsel in das autonome Zeitalter auch lohnen. Dort, wo jetzt am Schiff Mannschaftskabinen, Sanitärräume und die Kücheninfrastruktur verbaut sind, könnten künftig zusätzlich Container gestapelt werden, denn ein Schiff ohne Mannschaft, braucht keine Koje. Das nährt die Hoffnung, man kann sich künftig nicht nur Personal ersparen, sondern Schiffe auch kostengünstiger bauen. Das würde einen erheblichen Wettbewerbsvorteil zur normalen Schifffahrt bedeuten.

Glaubt man den Botschaftern der autonomen Schifffahrt, kann der Game-Changer auch die Besatzung glücklich werden. Sie muss nicht mehr Monate lang fern von der Familie über das Wasser schaukeln und sich Wind und Wetter aussetzen. Nein, der künftige KI-Kapitän wird mit seinen Kollegen bei geregelter Arbeitszeit in einem Großraumbüro sitzen und gleichzeitig mehrere Schiffe irgendwo auf der Welt automatisch steuern.

Eine 10-Mann-Crew, meinen die Experten, könnte so eine Flotte von mehr als hundert unbemannten Schiffen rund um den Globus in Echtzeit überwachen und ihre Routen optimieren. Dass sollten allerdings schon High-Tech Experten und nicht die Lohnsklaven sein, die man jetzt um ein Butterbrot anheuern kann.

Finanziert wird das gigantische Vorhaben rund um die autonome Schifffahrt mit öffentlichen Fördergeldern, die vielerorts Projekte und bunte Programme wie Pilze aus dem Boden sprießen lassen. Alle haben sie ein gemeinsames Ziel: Das Binnenschiff und das Seeschiff ohne Kapitän an Bord – also autonom fahrend. Begründet wird diese Zielsetzung mit den Behauptungen, die Schifffahrt wird kostengünstiger und menschliche Fehler, die ja angeblich die Hauptursache von Unfällen sind, werden ausgeschlossen. Folglich wird es auf einem Schiff ohne Mannschaft nur noch fehlerfreie Anläufe geben. Soweit die Theorie.

Schaut man sich die Ursachen „menschlicher Fehler“ an Bord an, kommen erste Zweifel hoch. Meist sind es Übermüdung, falsche oder unzureichende Ausbildung, die zu Unfällen mit Schiffen führen. Probleme, für deren Beseitigung es billigere Lösungen, als autonome Schiffe finden lassen. Ob die Schifffahrt kostengünstiger wird, kann wohl nur die Praxis bestätigen.

2012 kamen Wissenschaftler nach drei jähriger Forschung jedenfalls noch zum Ergebnis, machbar – aber zu teuer. Und eine beachtliche Sandbank lauert aber noch im Fluss auf dem Weg von analog nach autonom. Nämlich die behördlichen Hürden, die beim autonomen Schiff zu überwinden sind. Die notwendigen Regulierungen und Gesetze. Das dauert. Aber da hat man schon in der Vergangenheit bei anderen Herausforderungen gesehen, mit Interimslösungen lassen sich Behördenverfahren deutlich abkürzen. Und so manches Provisorium wurde schon zum Standard.

Die alles entscheidende Frage der automatisierten Schifffahrt wird sein, ob die Cybersicherheit so gewährleistet werden kann, dass es mit der künstlichen Intelligenz nicht schlagartig vorbei ist, wenn ein Ereignis eintritt, dass nicht eintreten soll. Das hätte nämlich Folgen, die einhundert besoffenen und unfähigen Kapitäne nicht verursachen könnten. Wie schwierig es ist, diese hohen Sicherheitsanforderungen zu erfüllen und was das kostet, weiß inzwischen fast jedes Unternehmen.

Das National Institut of Standards and Technology (NIST) empfiehlt dringend, die dauerhafte Echtzeitüberwachung aller elektronischen Ressourcen, weil die Bedrohungen rapide zunehmen. Wer wird diesen finanziellen Anker in der Schifffahrt lichten? Die US-Regierung gibt jährlich 13 Mrd. Dollar für die Cybersicherheit aus. Selbst nur für die autonome Schifffahrt innerhalb Europas, könnte ein Land alleine keine umfassende Cybersicherheit gewährleisten.

Seit COVID-19 sprechen wir auch nicht mehr „nur“ von drei Bedrohungsszenarien (Cyberkriminalität, Cyberkrieg, Cyberterror). Jetzt sehen wir – und wir sollten daraus die Lehren ziehen – was ein kleiner, unsichtbarer Virus urplötzlich und global auslösen kann. Wer soll die Cybersicherheit gewährleisten, wenn Millionen in Quarantäne oder gar gestorben sind? Mit Home-Office wird da nichts mehr gehen, denn menschliche Präsenz wird irgendwo in den Leitzentralen physisch anwesend sein müssen. Hier werden Bedrohungen Realität, die wenn überhaupt, nur mit der guten alten analogen Technologie zu bewältigen sind. Astronaut Alexander Gerst im O-Ton über die russische Weltraumtechnologie – einfach, aber sicher.

Der Worst Case für eine Flotte von autonomen Schiffen ist wohl dann Realität, wenn niemand mehr da ist um ein allenfalls vorhandenes analoges Backup zu aktivieren, oder wenn nicht mehr genug Experten da sind, die die zahlreichen Bedrohungen zeitnah abwenden können. Dabei sollte man die Rolle der Schifffahrt (und der Häfen) für die Versorgungssicherheit nicht aus den Augen verlieren. Der weitaus überwiegende Anteil an lebenswichtigen Gütern gelangt über die Seehäfen ins Land und wird von Binnenschiffen im Hinterland verteilt. (PB)

Quelle: Binnenschiff-Journal 2/2020

Ähnliche Beiträge