Die Schuldfrage und der „Faktor Mensch“

Irgendetwas läuft nicht rund bei der Einfahrt in die Schleuse, das Resultat: ein Schiff fährt gegen das Schleusentor.

Leserbrief: Kerstin Klinkenberg.

Die Folge: Schäden am Tor, Schäden am Schiff, die Reparatur dauert Tage, wenn nicht Wochen, die Wasserstraße wird temporär zur Sackgasse. Dem Schiff beschert es Betriebsausfälle. Von den Kosten ganz zu schweigen. Der Befrachter ist sauer, der Empfänger der Fracht schaut in die Röhre, für den Transporteur wird die Konventionalstrafe zur bitteren Realität. Der Verkehrsträger als solches hat sich, im Kampf um die Marktanteile, einen Minuspunkt eingefahren. Das nachhaltige Binnenschiff bringt‘s, ja, aber nur wann?

Schnelle Statements:“ wie dumm ist das denn, wie kann man nur“ die Neigung zu „beinharten“ Blitzanalysen. „was immer so klar auf der Hand liegt, verbunden mit der Faust auf dem Tisch: wir tolerieren keinen Fehler“ multimedial präsentiert, gehören leider häufig zum Zeitgeist.

War es menschliches Versagen – technisches Versagen? Der Schiffsführer/ die Schiffsführerin stehen –als Antiheld- im Rampenlicht. „Da hat wohl einer gepennt, aber so richtig!“ Schuldig oder nicht – ist doch ganz einfach, oder doch nicht?

Wo liegt eigentlich tatsächlich die Abgrenzung? 85 % der Unfälle basieren auf menschlichem Versagen. Ketzerisch gefragt: sind es nicht einfach 100 %, Digitalisierung und Automatisierung hin oder her. Handelt nicht immer und schlussendlich der Mensch – auch wenn er/sie vom ursprünglichen Geschehen vor Ort getrennt ist?

Und: Gehören Fehler nicht zum Leben? Auch zum Berufsleben? Auch in der Binnenschifffahrt? Das ist kein Plädoyer für einen laxes Verhalten – eher ein Appel, ein Netz zu schaffen, Fehler rechtzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können.
Der Humane Faktor, wieso eigentlich Faktor – ist in der Darstellung meist verbandelt mit dem Misserfolg, wie dem vorgenannten, fiktiven Schleusenunfall. Warum eigentlich?

Die Betrachtung der humanen Fähigkeiten, wäre das keine zielführende Erweiterung in der Strategie zur Vermeidung von Unfällen, einer Aufwertung der Leistung des Personals auf den Schiffen und an Land?

Der Mensch bringt nun mal ein ausgeklügeltes Wahrnehmungs- und Reaktionssystem mit ins Spiel. Hoch effizient. Das, was in der Fachsprache „neuronale Plastizität“ genannt wird, ist die Fähigkeit zum Lernen, Trainieren, Querzudenken, zu Hinterfragen. Aber auch dieses System hat Grenzen, Automatismen, „Spezialitäten“.

Grenzen, die durchaus fließend sind: das Wechselspiel zwischen Unterforderung/ Langeweile – Überforderung. Wann wird eine Belastung zur Beanspruchung, zum Stress, wann wird aus dem geistesgegenwärtigen, hochkonzentrierten Handeln ein Reagieren im Notfallmodus.

Würde man das Schleusen- Szenario weiter betrachten, käme vielleicht heraus:

– Das Schiff ist ein Sondertransport: Schubverband, LPP ca. 180 m, sensible Ladung, erschütterungsempfindlich.

Der Frachtraum ist mit Sensortechnik gepflastert, um den korrekten Transport zu kontrollieren. Jede Grundberührung wird registriert, kein Rempler der Schleusenkammerwand bleibt verborgen …

– Es wurde eine hohe Konventionalstrafe bei Nichteinhaltung der Konditionen vereinbart

– Starke Trockenheit der Vergangenheit am Oberlauf führen zur starkem Niedrigwasser

– Die Fracht ist zur Weiterverschiffung per Seetransport vorgesehen, der Zeitplan ist inzwischen knapp

– Die Schleusenpassagen und Brückendurchfahrten auf dem Fluss sind schlicht Maßarbeit. Nur wenige cm Platz, nach Bb, Stb, oben und unten.

– Zur Schleusenanfahrung gehört eine Flussbiegung, bewohntes Gebiet, bei gutem Wetter, wie an diesem Tag, von Wassersportlern, von Jetskifahrern bis Anglern gut genutzt, auch an diesem Tag…,

– Eigentlich ist der Schiffsführer eine eher besonnen handelnde Person, mit hohem Erfahrungswissen und Handlungskompetenz,

– Oder: er/sie ist ein ehrgeiziger Berufseinsteiger. Ehrgeizig, traut sich was zu, gute Ausbildung, auf breiten Wasserstraßen bereits Schubverband gefahren. Die gültigen Fahrterlaubniszeugnisse liegen vor….

– Oder…der Schiffsführer musste einen Streckenabschnitt noch erreichen, die Arbeitstage vorher waren sehr, sehr lang… Zeitdruck, es war dann doch zu viel los an den Schleusen, die Konventionalstrafe würde ihn ruinieren….

Welche und wie viele Szenarien würden Ihnen, als Leser, einfallen? Welche Bilder entstehen in Ihrem Kopf zur Person des Havaristen und dem Unfallhergang? Wären Sie Unfallbeteiligter, unter welchen Randbedingungen, würden Sie wagen, das was tatsächlich – in voller Komplexität – stattfand preiszugeben? Ohne Gefahr zu laufen, mehr an Verantwortung übernehmen zu müssen, als Sie tatsächlich tragen?  Es ist die Abwägung von Rechtsverständnis und Auslegung von Vorschriften, Eigenverantwortung. Den Polaritäten von Schuld und Unschuld. Das Szenario ist stark vereinfacht. Wäre es nicht ein lohnendes Unterfangen, zu befragen und zu hören, wie die Begleitumstände des Unfalls war?

Dies ist Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der leistbaren mentalen Belastungen am Arbeitsplatz, eine Wertschätzung des Berufsbildes Binnenschiffer und verbundenen Berufe sowie den dazugehörigen Kompetenzen, auf nautisch-technischer, arbeitsorganisatorischer und menschlicher Ebene. Und ebenso eine Einladung, den geschützten Rahmen der Mediation zu nutzen, nicht nur, um Unfallhergänge zu verstehen, sondern nachhaltig, auf allen Ebenen, wie: Verwaltung, Schiffsführung, Schulung, Befrachtung, angrenzende Gemeinden, den Verkehrsträger stärkende Verbesserungen zu erzielen.

Mediation ist ein außergerichtliches, sehr strukturiertes Verfahren zur Konfliktbeilegung. Vertraulichkeit und Freiwilligkeit geben den beteiligten Parteien die Möglichkeit, in ihren Themen und Positionen, Interessen klar verstanden zu werden. Im Konsens die in der individuellen Konstellation spezifischen Lösungen zu erarbeiten, die eine nachhaltige Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen ermöglichen können. Mediatoren haben die Funktion des Lotsen und Sprachmittlers im Verfahren. Die gesetzliche Grundlage ist in Deutschland das Mediationsgesetz.

Eine Mediation kann immer vereinbart werden, sie ist frei von Fristen. Die Medianten bestimmen mit ihrem Engagement und ihrem Willen zur konstruktiven Arbeit den zeitlichen und qualitativen Fortgang des Verfahrens und der Lösungsfindung. Sie ersetzt kein notwendiges Gerichtsverfahren (Strafgerichtsprozess), aber auch in Ergänzung zur gerichtlichen Auseinandersetzung kann ein begleitendes Mediationsverfahren zu mehr Klarheit und zur Verkürzung der Auseinandersetzung führen. Dieser Leserbrief schließt mit dem Appell für ein gesundes Miteinander aller Beteiligten zur Stärkung des Transportsystems und dem nachhaltigen Transport auf Binnenwasserstraßen.

Dem „Binnenschiff- Journal“ einen guten Start auf dem Weg zu einem lebendigen und kompetenten Forum und Allzeit gute Fahrt!

Quelle: Binnenschiff Journal Ausgabe 1/2020

Translate »