EMIL kann nicht schwimmen

Die Binnenschifffahrt spielt in Europa für die Logistik eine untergeordnete Rolle, sagt die Expertin Margaretha Gansterer. Stimmt das und soll man das resignativ als von Gott gewollt zur Kenntnis nehmen? Vielleicht lohnt sich eine genauere Analyse und es besteht noch Hoffnung für die Binnenschifffahrt.

Text: Peter Baumgartner

Die Binnenschifffahrt ist beim Transport von Großraumgütern und Schwerlasten als Grundversorger unverzichtbar für alle Industriestandorte an Wasserstraßen, sagt der Bundesverband der Industrie (BDI) in Deutschland und ähnlich klingt es aus der chemischen Industrie. Statistisch kann man das am deutlichsten in den Niederlanden sehen. Dort lag der Anteil der Binnenschifffahrt am gesamten Binnengüterverkehr zuletzt bei 41,6 Prozent. Für den BDI ist die Binnenschifffahrt hocheffizient. Insbesondere bei Transporten von flüssigen oder gasförmigen Massengütern. Generell ist laut BDI Massenguttransport mit Tank- oder Trockengutschiffen in Bezug auf den Energiebedarf, Umschlagkosten und CO2-Emissionen ideal. Außerdem ist in der Industrie unbestritten, dass die Binnenschifffahrt die Feeder-Funktion für die Seeschifffahrt (Hinterlandverkehr) wahrnehmen muss, ohne den es in jedem Seehafen, insbesondere im Containerverkehr, zu endlosen Staus kommen würde. Effiziente Logistikprozesse funktionieren nur im Verein mit allen Verkehrsträgern und dazu braucht es mehr öffentliche Bewusstsein, sagt Uta Maria Pfeiffer, die Leiterin der Abteilung Mobilität und Logistik im BDI. Die einhellige Meinung der Industrie ist, zur Bewältigung des Güterverkehrsaufkommens werden alle Verkehrsträger mit ihren spezifischen Stärken gebraucht.

Neben den „bedeutungslosen“ Niederlanden gibt es noch ein paar andere Nationen, für die Binnenschifffahrt nicht fremd ist.

Univ.-Prof. Margaretha Gansterer, die Logistikexpertin an der Universität Klagenfurt, hat da eine etwas andere Sicht auf das Thema. Grundsätzlich, sagt sie, spielt die Binnenschifffahrt in Europa für die Logistik eine untergeordnete Rolle. Gansterer ist Dekanin an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und hat gerade ein Projekt mit dem Namen EMIL (Exchange Mechanisms in Logistics) laufen. Es geht um Sharing Economy und um die Problemstellung, wie konkurrierende Unternehmen im Transport zusammenarbeiten können. Aber EMIL, das 400.000 Euro-Forschungsprojekt, kann nicht schwimmen. Es geht nur um Güterverkehr auf der Straße. Dort will man nachschauen, wie man vorhandene Kapazitäten besser nutzen kann. Abgesehen davon, dass es seit dem Projekt ESLA (2011) solche Kooperationen schon länger gibt, gerade hat sogar die ÖBB eine Kooperation mit der Binnenschifffahrt gestartet und in der Geschichte der Binnenschifffahrt begann bereits 1905, mit der Einführung des Bundesschleppbetriebes, eine kooperative Transportabwicklung, die genau die heutigen Ziele im Auge hatte. Die geringe Bedeutung der Binnenschifffahrt für eine Uni-Professorin liegt also vielleicht daran, dass es auf dem Lendkanal in Klagenfurt tatsächlich schon lange keine Frachtschifffahrt mehr gibt. Aber die Meinungsäußerung wirft ein Schlaglicht auf ein Problem mit besonders nachhaltig negativer Auswirkung. Angehende Logistiker verlassen nämlich seit Jahrzehnten ihre Ausbildungseinrichtungen mit eben diesen Lehrinhalten: Die Binnenschifffahrt spielt eine untergeordnete Rolle. Mit diesem „Wissen“ sitzen die Logistiker dann in ihren Büros und treffen Tagesentscheidungen unter Zeitdruck mit dem alleinigen Fokus auf Straße und Schiene. Noch vor wenigen Jahren gab es in den Ausbildungszentren nicht mal Lehrmaterial zum Thema Binnenschifffahrt und wichtige Standardwerke zum Thema Logistik enthalten heute noch maximal ein paar Absätze mit teils falschen oder überholten Informationen zur Binnenschifffahrt. Erst durch die Masterarbeit von Lisa-Maria Putz an der FH Steyr (Die Binnenschifffahrt in Österreichs Bildungslandschaft: Eine Situations- und Bedarfsanalyse/2013), verbesserte sich das Allgemeinwissen in der Logistik. Putz stellt in ihrer Arbeit allgemein fest, dass den für die Verkehrsträgerwahl zuständigen Personen schlicht und ergreifend das Wissen und die Erfahrung mit der Binnenschifffahrt fehlt und diese daher die Wasserstraße nicht als Transportalternative mit einbeziehen. Am Beispiel aus der Uni Klagenfurt kann man ablesen, dass es mitunter 10 Jahre nach der ersten Erkenntnis, noch immer Wissenslücken gibt.

Tatsächlich bildet der Modal split die vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Binnenschifffahrt ab. Aber ist das wirklich so?

Aber Defizite in der fachlichen Wahrnehmung gibt es nicht nur in der Logistik, sondern auch auf politischer Ebene, wo Infrastrukturmaßnahmen für den Verkehr entschieden werden. Die Industrie sagt, dass aktuell ein wesentlicher Vorteil der Binnenschifffahrt die freie Kapazität ist, die anders als auf der Straße oder Schiene, nahezu überall zur Verfügung steht. Davon abgeleitet, braucht die Binnenschifffahrt natürlich wie der Straßen- und Schienenverkehr die entsprechende Infrastruktur. Gegenüber anderen Verkehrsträgern hat die Binnenschifffahrt hier allerdings erhebliche Nachteile, weil die Verkehrspolitik fünf Autobahnen baut, bevor sie eine neue Hafenanlage entwickelt. Oder man schüttet gleich vorhandene Wasserflächen zu, um Raum für den Straßengüterverkehr zu schaffen. Und ungeachtet der Tatsache, dass eine effiziente Nutzung der Wasserstraße für die Industrie nur dann möglich ist, wenn sie den Standortfaktor nutzen kann, werden Logistikimmobilien oder Produktionsstätten zielsicher immer dorthin gebaut, wo es keinen Anschluss an die Wasserstraße gibt. Geschuldet ist das einer Industrieansiedlungspolitik auf Zuruf, wo der Bürgermeister die größten Chancen auf Industrieansiedlung hat, der die billigsten Grundstückspreise anbieten kann. Dass dabei Betriebe fernab jeder vernünftigen Verkehrsinfrastruktur errichtet werden, spielt offensichtlich keine Rolle. Selbstredend, dass dennoch jeder Politiker mit Todesverachtung zum „Spatenstich“ schreitet.

Eine Donaufähre für LKW ist für die Statistik bedeutungslos. Quelle: IBBS

Ein weiterer Aspekt, der auch für die Geringschätzung der Binnenschifffahrt verantwortlich ist, ist die Statistik. Von Mark Twain, der ja auch selber Lotse, also Binnenschiffer, auf dem Mississippi war, soll angeblich eine spezielle Definition der Lüge stammen: Es gibt Lügen, verdammte Lügen – und es gibt Statistik. Diese Beschreibung passt jedenfalls ganz gut für die Statistik über die Binnenschifffahrt. Nicht nur weil hier viel gelogen wird, sondern weil auch entsprechende gesetzliche Grundlagen fehlen. Zum Beispiel werden Schiffe, die weniger als 50 Tonnen transportieren nicht erfasst. Umgelegt auf den Straßengüterverkehr würde das bedeuten, dass es gar keinen LKW-Verkehr gibt. Schiffe, die hauptsächlich Fahrgäste transportieren werden auch nicht erfasst. Schwimmt eine Fähre mit 10 LKW an Bord auf der Donau von A nach B, werden die LKW statistisch erfasst – aber nicht die Fähre. Mengenmäßig erheblich ist die Ausnahmeregelung von der Meldepflicht für Schiffe, die ausschließlich zur Bunkerlagerung verwendet werden. Gänzlich unlogisch wird das Statistikgesetz, wenn es um die Begriffsbestimmungen und die damit verbundenen Ausnahmeregeln geht. Obwohl unter dem Begriff „schiffbare Wasserstraßen“ nicht nur Flüsse oder Kanäle, sondern auch Seen verstanden werden, wird der Güterverkehr auf Seen nicht erfasst. Man stelle sich vor, dass eine Straßenverkehrsstatistik nur für Autobahnen, aber nicht für Schnellstraßen gilt. Nationale Statistiken werden auch dadurch völlig verfälscht, weil unter „Nationalität des Schiffes“ der jeweilige Registerort, aber nicht der Eigentümer/Verfügungsberechtigte gemeint ist. Generell gibt es keine einheitliche Datenerfassung über die Binnenschifffahrt in der EU. Einige wichtige Daten werden – zum Beispiel in Italien, nur auf freiwilliger Basis übermittelt, andere wiederum gar nicht. Aber bekanntlich weiß eh jeder, dass man nur den Statistiken Glauben schenken kann, die man selber gefälscht hat.

Hinsichtlich der Bedeutung und Wertschätzung hat das Binnenschiffsgewerbe, haben die Reedereien selber auch noch eine erhebliche Bringschuld zu leisten, damit sich die verladende Wirtschaft auf das Verkehrsmittel Binnenschiff verlassen kann. So hat man zum Beispiel noch ausschließlich große und schwere Schiffe gebaut, als es schon längst klar war, dass die Pegelstände und damit die nutzbare Abladetiefe klimabedingt sinken werden. Heute steht man vor dem Problem, dass diese großen Schiffe – wenn überhaupt, mit geringer Ladung kaum noch wirtschaftlich betrieben werden können. Schon muss sich die verladende Wirtschaft selber engagieren und schnell für Niederwasser geeignete Binnenschiffe bauen, weil die Reedereien finanziell dazu nicht in der Lage sind, oder noch immer nicht reagieren.

Wenn das Binnenschiff schwimmt, ist keine Ladung zu groß oder zu schwer. Quelle: IBBS

Der Projekttitel EMIL steht zwar angeblich für Exchange Mechanisms in Logistics, aber vielleicht hatten die Initiatoren auch die lateinische Übersetzung aemulus (eifersüchtig, Konkurrent, Rivale) im Hinterkopf. Da könnte man Anknüpfungspunkte auf allen Ebenen der Transportwirtschaft finden. Um EMIL endlich das Schwimmen beizubringen, brauch es jedenfalls mehr als die Kollaboration zwischen zwei oder mehreren Transportanbietern. Hier müssen alle Stakeholder an einen Tisch und schleunigst den Anker lichten.

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