Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand

Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei. Das wissen auch viele Kapitäne aus eigener leidvoller Erfahrung. Ungarn zählt zu den EU-Ländern, wo Recht bekommen anscheinend nicht selbstverständlich ist.

Mitte Juni veranstaltete die Kherson State Maritime Academy ein großes Fest aus Anlass der Erhebung in den Status einer Akademie vor 10 Jahren. Die Geschichte dieser traditionsreichen Marineschule reicht zurück in das Jahr 1834. Aufgenommen wurden immer nur Bewerber/Bewerberinnen, die es mit der Ausbildung in einem nautischen Beruf ernst meinten. Einer goldenen Regel folgend, müssen Bewerber/Bewerberinnen nicht nur strenge Vorgaben hinsichtlich geistiger und körperlicher Qualifikation erfüllen, sie müssen auch mental den hohen Anforderungen ihrer künftigen Verantwortung gewachsen sein. Auf den Punkt gebracht: Sie müssen „Gottes Gesetzen und einer strengen Moral“ folgen. Dass schon 1930 auch Frauen in die Schule aufgenommen wurden ist ein Hinweis darauf, dass die gleichberechtigte Ausbildung ein selbstverständlicher Zugang der Schule ist. Man kann sagen, dass die Marine Academy ein Ausbildungsflaggschiff nicht nur in der Ukraine, sondern weit über die Grenzen hinaus repräsentiert.  Mehr als 30 Schiffe sind nach Absolventen der Academy benannt – für eine nautische Schule eine hohe Auszeichnung. Fast 6.000 Studenten aus 20 Ländern studieren derzeit in verschiedenen Sprachen – auch in Deutsch – an der Schule nautische Ausbildungsthemen. Die diesjährige Feier war nicht nur Anlass für zahlreiche Grußbotschaften hoher Würdenträger, auch Absolventen der Marineschule nahmen selbstverständlich an den Feierlichkeiten ihrer Schule teil. Denn für Absolventen ist die enge Verbindung mit der Schule und mit ihren Lehrkräften eine lebenslange Tradition und Teil der persönlichen Geschichte, auf die sie mit Stolz verweisen. Wie stark die traditionellen Verbindungen zwischen Absolventen und der Academy sind, kam auch bei der diesjährigen Feier mehrfach deutlich zum Ausdruck. Ein Absolvent der Academy konnte heuer an den Feierlichkeiten allerdings leider nicht teilnehmen. Der ukrainische Kapitän Jurii Chaplinskii (65). Er, der nach der Wende in den Westen gegangen und da dank seiner soliden Ausbildung mit offenen Armen empfangen wurde, hat seither Flusskreuzfahrtschiffe auf den westeuropäischen Wasserstraßen geführt.  Am 29. Mai 2019 war Kapitän Chaplinskii in Budapest auf einem Schweizer Kreuzfahrtschiff in einen schweren Schiffsunfall verwickelt. Bei einer Kollision mit einem örtlichen Passagierschiff sind 27 Personen ertrunken, eine Person gilt noch als vermisst. Der genaue Hergang, der zum Unfall geführt hat, ist noch immer ungeklärt. Dennoch ist der ukrainische Kapitän seit mehr als zwei Jahren, der einzige Angeklagte und befindet sich in Gewahrsam der ungarischen Justiz. Er darf Budapest nicht verlassen und zwischendurch wurde er auch mehrmals in Haft genommen. Obwohl die Schuld des ukrainischen Kapitäns keineswegs bewiesen ist, ist er seit zwei Jahren einer beispiellosen medialen Vorverurteilung ausgesetzt und das öffentliche Ungarn nützt jede Gelegenheit, um auf die Tragödie und den vermeintlich Schuldigen hinzuweisen. Chaplinskii, der inzwischen von den Umständen auch körperlich schwer gezeichnet ist, kann sich offensichtlich nur auf seinen ungarischen Pflichtverteidiger stützen. Erst vor wenigen Tagen wurde die European Transport Workers‘ Federation (ETF) durch die Schweizer Gewerkschaft Nautilus auf den Fall aufmerksam und es scheint, dass sich erstmals nach zwei Jahren eine offizielle Stelle um die unhaltbaren Zustände einer sichtlich überforderten ungarischen Justiz kümmert. Und es scheint dringend geboten, dass sich abseits der oftmals verantwortungslosen Reedereien Organisation für die Rechte der Schiffscrews einsetzt. Gefangen an Bord oder Spielball der Justiz, was heute Chaplinskii betrifft, kann morgen jeden anderen Kapitän betreffen. Die Schifffahrt ist international und es ist an der Zeit darüber nachzudenken, überforderte nationale Gerichte aus der Verantwortung zu entlassen und eine internationale Gerichtsbarkeit mit schwierigen Fällen zu betrauen.

Zu hoffen bleibt, dass die erworbene mentale Kraft von Chaplinskii ausreicht, damit er vielleicht bei der nächsten Feier seiner Academy in Kherson wieder anwesend sein kann.

Sicher ist, Chaplinskii‘s  „Erfahrungen“, die er als Kapitän in der Europäischen Union gemacht hat, könnten für seine Landsleute zur wichtigen Entscheidungsgrundlage bei der künftigen Berufswahl werden.

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